Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx gab kurz vor Weihnachten der Welt am Sonntag ein bemerkenswertes Interview, in dem er unter anderem eine Renaissance des Marxismus für möglich hält. Karl Marx habe, so Kardinal Marx, in „einigen Bereichen in der Analyse“ durchaus recht gehabt, „etwa was er über die Akkumulation des Kapitals und den Warencharakter der Arbeit sagte“.
Der Kirchenmann Marx sagt über den „Gott sei bei uns“ Marx, er hatte in einzelnen Analysen recht? Wie das?
Nun, der Warencharakter der Arbeit besteht – sehr verkürzt – in der Notwendigkeit für den Einzelnen seine Arbeitskraft den Unternehmen verkaufen zu müssen, um irgendwie überleben zu können. Die Unternehmen auf der anderen Seite nutzen die Situation, um ihre Gewinne (den erzielten Mehrwert, den sie den Arbeitenden durch zu niedrige Entlohnung vorenthalten) dem eigenen Kapital zuzuführen, um damit weiteres Wachstum zu erreichen, das schließlich „zwingend“ zu einer Überproduktion führt, mit dem Ergebnis einer tiefgehenden ökonomischen Krise durch mangelnde Nachfrage nach diesen Produkten und Gütern.
Und, so Kardinal Marx weiter: ein sich „beschleunigender globaler Kapitalismus“ habe (daher) viele negative Folgen und zu einem massiven Gefühl der Verbitterung geführt.
Er, Kardinal Marx, halte es daher für notwendig, die Idee der sozialen Marktwirtschaft weltweit umzusetzen, nicht zuletzt, um auch eine Renaissance des Marxismus zu verhindern. Dazu sei es notwendig, ein globales Rahmenwerk zu schaffen und Institutionen, die dafür eintreten.
Zusammengefasst heißt das:
Ein deutscher Kardinal kritisiert den (neoliberalen) Brachialkapitalismus mit den Analysewerkzeugen des Marxismus, um zu der Ansicht zu gelangen, dass die soziale Marktwirtschaft als kooperatives (Erfolgs)Modell ein Ausweg aus der Sackgasse des praktizierten Ellenbogenkapitalismus ist?!
Normalerweise könnte man sich nun, je nach eigener politischer Orientierung, mit wohligem Gefühl oder gar ein wenig schaudernd dem nächsten Artikel zuwenden, wäre dieser Marx – ähnlich seinem Namensvetter – nicht auch ein führendes Mitglied einer internationalen Struktur, die global tätig, global einflussreich, aber anders wie der Marxismus über die Jahrhunderte hinweg global erfolgreich ist.
Der Konzernchef dieser Struktur, Papst Franziskus, hat der eigenen Organisation ein tiefgreifendes Facelifting verschrieben. In vielen seiner Äußerungen stellt er den Menschen, der unter sozialer und ökonomischer Bedrängnis leiden muss, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Er löst damit das Menschenbild heraus aus der Unfreiheit des demütig zu ertragenden Unabänderlichen, indem er durch die Forderung nach (ökonomischer) Veränderung – dem menschlichen Recht auf ein Leben in Freiheit, auch in Freiheit von ökonomischer, gesellschaftlicher, politischer Bedrängnis, eine gottgewollte Dimension gibt.
Es ist daher kein Zufall, wenn Kirchenvertreter die soziale Marktwirtschaft langsam ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken. Und es ist vielleicht auch ein Ansatzpunkt, über alte weltanschauliche Grenzen hinweg zu denken und jene in der Kirche, die dieses Facelifting nicht blockieren, als Mitstreiter im Bemühen um eine bessere Welt zu sehen.
Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, erweitert um eine wirksame ökologische Dimension, lässt sich ja auch begreifen als ein Freiheitskonzept durch Kooperation, wobei der Mechanismus zur Kooperation auf zumindest zwei Säulen ruht: einer funktionierenden Demokratie als Ort der Integration unterschiedlicher Interessen und Meinungen und – als Ort der operativen Umsetzung – dem Staat, sowie öffentliche Organisationen mit den ihnen übertragenen Aufgaben.
Gerade da müsste übrigens ein ernst gemeintes (linkes) Reformprojekt ansetzen: welche Aufgaben soll und kann eine Gesellschaft heute kooperativ besser bewältigen, welche Aufgaben überlässt man bewußt der privaten Initiative. Wo schaffen wir durch Kooperation ein Mehr an Freiräumen und wie können wir übergross gewordene wirtschaftliche Macht einzelner Unternehmen in soziale Verantwortung integrieren.
Dieses Konzept ist bewußt gedacht als Gegensatz zum Konzept der allgegenwärtigen Risikoverschiebung in den privaten Bereich. Da der alte dialektische Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital in einer globalisierten Welt zu kurz greift, ist es wohl an der Zeit die Interessengegensätze unserer Zeit neu zu denken.
Das Freiheitkonzept durch Kooperation steht in krassem Gegensatz zum neoliberalen Freiheitskonzept, das auf die Möglichkeiten durch persönlichen Reichtum aufbaut. Das Freiheitskonzept durch Kooperation, wie es in der Sozialen Marktwirtschaft angelegt ist, ist eine ureuropäische Erfindung, die in der globalen Weltordnung der Deregulierungen unter Druck geraten ist. Die neoliberale Wirtschaftsphilosophie, die kooperative Verantwortung schon desshalb nicht wahrnehmen kann, weil sie sonst auf ihren Lieblingsfetisch, den Markt, zumindest teilweise verzichten müsste, ist für kollektive Herausforderungen ungeeignet.
Ein paar Beispiele?
Eine Gesellschaft, die mit einem Gesundheitssystem ausgestattet ist, das jedem eine umfassende Behandlung zukommen lässt, ist eine Gesellschaft, die jedem die Sicherheit gibt, dass schwer krank werden nicht zugleich arm werden bedeutet. Und arm werden bedeutet schließlich nichts anderes als Freiheitsräume zu verlieren.
Eine Gesellschaft, die die ökonomische und soziale Entfernung zwischen Arm und Reich in Grenzen halten kann, ist eine Gesellschaft, die mit signifikant weniger Kriminalität (siehe Nordeuropa) konfrontiert ist. Ein Umstand, der auch das Lebensgefühl im öffentlichen Raum nachhaltig beeinflusst und angstfreie Bewegungsfreiheit ermöglicht.
Eine Gesellschaft, die Bildung als öffentliche Aufgabe wahrnimmt, ist eine Gesellschaft, die das Freiheitsversprechen der Entwicklung individueller Fähigkeiten, losgelöst von der oftmals schwierigen familiären wirtschaftlichen Situation, viel besser einlösen kann, als hochteure Universitäten, die aufgrund der Studiengebühren einen finanziellen Numerus Clausus anwenden.
Und schließlich: eine Gesellschaft, die den, von Menschen verursachten, Klimawandel als globale kooperative Herausforderung ansieht, wird auch eher bereit sein global kooperative Massnahmen zu akzeptieren, um die Klimamigration so gering wie möglich zu halten. Denn, aus Not seine Heimat verlassen zu müssen, ist nichts anderes als der Freiheitsverlust dort zu leben zu können, wo man seine Heimat hat.
Die Alternative?
Wer sich heute auf den Kauf eines sehr teuren, sehr schönen, brandneuen Handys freut, der sollte wissen, dass er bei diesem 1000 Dollar teuren Gerät mit Obstsymbolik, ein Produkt ersteht, das in der Herstellung unter 400 Dollar kostet.
Von den über 150% Aufschlag sind natürlich Logistik, Werbung, Forschungskosten etc. abzudecken. Wieviel trotzdem übrigbleibt, kann man daran ablesen, dass die Ersparnisse dieses Konzerns zügig der 100 Milliarden Dollar Marke näher kommen und damit weit höher sind als das (Gesamt)Budget Österreichs 2017.
Der chinesische Fertigungsdienstleister dieser Handys beschäftigt, um zu diesem Preis produzieren zu können, Wanderarbeiterinnen, die hingegen zu niedrigsten Löhnen arbeiten müssen, um irgendwie „über die Runden“ zu kommen.
Und das in einem Land, das seit1949 durchgehend von einer kommunistischen Partei regiert wird.
Welch eine Ironie!
Wie würde Karl Marx Analyse heute wohl aussehen?